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Veröffentlicht am 02.03.22

Selbstübersetzung

AM NULLPUNKT DER ÜBERSETZUNG

In Sarrasine von Honoré de Balzac sitzt ein junger Mann, verborgen in einem Moirévorhang, in einer Fensternische. Es ist ein kalter Winterabend. Er schaut in den Garten hinunter: Schnee, nackte Bäume, gespenstig, am Himmel das schwache Mondlicht. Von der Kälte wird sein rechtes Bein wie zu Eis. Auf der anderen Seite blitzen Silber und Gold, Kronleuchter, Menschen tanzen, lachen und trinken, Blumen ringsherum, Bouquet, drückende Hitze. Mit dem linken Fuß folgt er dem Takt der Musik – und den rechten meint er in einem Sarg zu haben.
Balzacs Erzählung Sarrasine diente Roland Barthes (1984) als Ausgangspunkt für seine These vom „Tod des Autors“. Nun ziehe ich sie heran und verkünde hiermit den „Tod des Übersetzers“.
Die Praxis des Übersetzens bedeutet in der Regel, darum zu bangen, dass wir jeden Satz und jeden Gedanken richtig interpretiert, jedes Wortspiel erkannt, jedes Unausgeschriebene erfasst haben. Text und Autor:in gegenüber wollen wir ja gerecht werden. Die Verantwortung ist sehr groß. Wenn ich mich selbst übersetze, habe ich diese Angst nicht. Meistens verstehe ich mich. Mich selbst zu übersetzen bedeutet, mich dort wiederzufinden: Am Nullpunkt der Verantwortung.
Sich selbst zu übersetzen ermöglicht einen kleinen Spaziergang. Hier mal etwas wegrupfen, dort ein bisschen Stepptanz. Sich selbst zu übersetzen heißt, Garten und Parkett gleichzeitig wahrzunehmen – beides mit dem Blick zu umarmen.  Ich kann sogar entscheiden, die weiteren Säle im Palast, in dem der Ball stattfindet, abzuklappern, und die anderen Landstriche über den Garten hinaus. Es bedeutet Freiheit, dahin zu reiten.
Sich selbst zu übersetzen heißt, den eigenen Text lesen zu können. Das ist sonst unmöglich, schreibt Jean-Paul Sartre. Während Schuhmacher:innen die von ihnen hergestellten Schuhe anziehen, Architekt:innen das von ihnen gebaute Haus bewohnen können, sind Schriftsteller:innen, so Sartre, nicht imstande, ihre eigenen Bücher zu lesen. Das sei „eine rein regulierende Aufgabe“. Ihrem Werk gegenüber befinden sich Autor:innen jenseits des Lesens. Der Zickzack mit der Fremdsprache macht es möglich, den Text wiederzuentdecken. Ein Text, an den ich immer wieder zurückkehre. Hinter meinem Text werfe ich dann meinen Sprachen, meinen Einfällen einen langen Blick zu und lasse mich überraschen. Mich selbst zu übersetzen ist eine Art Lektorat. Sonst ändere ich fürs Lektorieren mal die Schriftart, mal die Schriftfarbe, mal lese ich den Text rückwärts – vom letzten bis zum ersten Wort. Manchmal schreibe ich mit der ungewohnten Hand, spiegelverkehrt, spiegelverkehrt mit der ungewohnten Hand, um die Schrift wieder als Schrift erfahrbar zu machen.
Sich selbst zu übersetzen heißt, sich von technischen Reflexen zu befreien, so Barthes am Nullpunkt der Literatur (1953). Dann ist die Vokabel „von der Kruste der üblichen Klischees getrennt“ und „für alle möglichen Zusammenhänge völlig unverantwortlich“.
Sich selbst zu übersetzen heißt, sich selbst auf die Nerven zu gehen. „Geht es Ihnen auch so wie mir“, fragt Anne Weber im Gespräch mit Zoë Beck, „dass ich eigentlich bei jedem Autoren, auch bei einem, dessen Sprache ich wirklich schön finde, und den ich für einen guten Schriftsteller halte, dass mir der aber trotzdem nach einer Weile beim Übersetzen auf die Nerven geht?“ 
Während ich nun diese Übertextung in meinen Koffer lege, tanzen ein paar Bäume im Hintergrund.

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Bibliographie:

Honoré de Balzac: Sarrasine. Die Geschichte einer unerfüllbaren Leidenschaft. Frankfurt am Main: Insel 2001, S. 3–4. [1830] Aus dem Französischen von Jürgen Hoch.
Roland Barthes: L’écriture et le silence. In: Ders.: Le degré zéro de l‘écriture. Paris: Seuil 2002, 58–61, hier S. 59. [1953] [Meine Übersetzung]
Roland Barthes: Vom Tod des Autors. In: Ders.: Das Rauschen der Sprache. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, 57–63. [1984] Aus dem Französischen von Dieter Hornig.
Jean-Paul Sartre: Pourquoi écrire? In: Ders.: Qu’est-ce que la littérature. Paris : Gallimard 1948, 45–73, hier S. 48. [Meine Übersetzung]
Anne Weber: Sich (nicht) selbst übersetzen. Im Gespräch mit Zoë Beck und Sophie Sumburane [https://bit.ly/3v9BjHy . Letzter Zugriff: 22.02.2022]