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Veröffentlicht am 25.12.21

Bühne

Wenn du die Augen schließt und dir eine Literaturübersetzerin vorstellst, wette ich, dass du sie nicht auf einer Bühne siehst – ich auch nicht. Du siehst sie wahrscheinlich am Computer in ihrem kleinen Bürozimmer sitzen oder, wenn du eher der romantische Typ bist, beseelt ein Buch lesend, oder sogar, wenn dich die Freiheitsgestaltung unseres Berufes besonders anspricht, mit ihrem Laptop am Meer, unter Olivenbäumen tippend. Alles ein bisschen klischeehaft, aber eins stimmt in jedem Fall: Einsam arbeitet sie, in den stillen Dialog mit ihrer Autorin vertieft, und dabei ist sie meist glücklich. Literatur übersetzen ist eine Tätigkeit, die in der Regel nicht nur allein ausgeübt wird, sondern – meine Feldstudien scheinen es zu belegen – oft (nicht immer!) bewusst oder unbewusst auch aus diesem Grund gewählt wurde, und zwar von Menschen, die nicht unbedingt unter vielen Leuten sein müssen und die eigene Stimme gerne einem anderen leihen. Für sie ist meist die Vorstellung, eine Bühne zu betreten, sehr unangenehm, so sehr, dass ich mich manchmal frage, ob die zu Recht beklagte Unsichtbarkeit der Übersetzer*innen wenigstens zum Teil etwas damit zu tun haben kann.

Stell dir also vor, dass du als junge Literaturübersetzerin in deinem Kämmerlein zu übersetzen anfängst, und du wirst gut. Das bekommst du zu spüren, in den Besprechungen wird deine Arbeit gelobt und deine Autor*innen werden immer hochkarätiger, bis der gefürchtete Tag kommt. Manchmal in der gemilderten Form einer Begleitungsanfrage, manchmal gleich in der Knallversion: Deine Autorin kommt auf Lesereise, du sollst sie begleiten, dolmetschen und am besten gleich zweisprachig moderieren, denn wer besser als du, und so weiter. Panik. Scham.

Klar kannst du irritiert erklären, dass Übersetzen und Dolmetschen zwei völlig unterschiedliche Berufe sind, dass es bestimmt bessere Profis für den Auftrag gäbe, aber tief in dir drin weißt du es schon: Natürlich bist du dafür die Richtige. Und: Die Autorin, mit der du inzwischen befreundet bist, will dich unbedingt dabei haben. Und: Das Honorar lockt. Und: Du brauchst dich nicht ständig für die Sichtbarkeit deines Berufs stark zu machen, wenn du dann sofort verschwindest, wenn… usw. Und: Das letzte Mal, als deine Autorin in Deutschland gelesen hat, wurde sie so beliebig moderiert, so deprimierend gedolmetscht, dass du eine Nervenkrise gekriegt hast.

Alle diese Argumente wirst du nächtelang in dir wälzen, aber den Schritt wagst du immer noch nicht, bis aus irgendeiner ungeahnten Tiefe deines Körpers plötzlich ein lang verstummtes Stimmchen ruft: Ich hätte Bock.

Den Schreibtischalltag hast du inzwischen relativ satt. Du hast dich bei allen Übersetzer-Mailinglisten angemeldet, gehst fast regelmäßig zum Stammtisch, gibst sogar ein paar Seminare, aber auf einmal… die Bühne ruft, ohne dir viel Zeit für die Antwort zu lassen: Wer hätte es gedacht.

Und da weißt du es: Schlaflose Nächte hin oder her, du wirst zusagen. Du wirst dich zeigen mit dem, was du kannst. Und du wirst langsam verstehen, dass du deine Stimme ganz konkret nicht nur verleihen, sondern auch für sich erklingen lassen kannst. Dass es im Prinzip wenig Unterschied zwischen einem Schauspieler und einer Literaturübersetzerin gibt – u. a. besteht er darin, dass du dein Skript selber schreibst.

Es gibt keinen Kurs, der dich in den nächsten zwei Wochen auf den ersten Auftritt vorbereiten kann. Es gibt prinzipiell kaum Kurse, die wirklich helfen, aus dem Kämmerlein souverän – aber nicht zu souverän – herauszukommen. Du musst dir einen zusammenbasteln, und darin bist du als kreative Freiberuflerin erfinderisch. Stundenlang schaust du dir Lesungen deiner Autorin auf Youtube an, hörst genau zu, wie sie spricht, wie sie nicht spricht, welche Werke sie immer wieder zitiert. Du drückst immer wieder auf Pause (zu Hause geht es ja noch), bis die Sprechzeiten, die du locker dolmetschen kannst, immer länger werden, deine Karteikarten immer besser, deine Tricks immer professioneller. Du bist bereit.

Und eines Tages bist du dann selbst der Hauptbühnengast. Das Stimmchen, das nun eine kräftige Stimme geworden ist, ist nur deine – und gleichzeitig auch nicht, denn alle deine Autor*innen werden dich stets gerne begleiten.